FASZ. Matthias Aull: Der Schneider im Internet

Erschienen in der Ausgabe vom 16. März 1997 der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung

FRAMMERSBACH. Die Idee ist eingeschlagen: Der gelernte Schneider und Bekleidungstechniker Matthias Aull aus dem Spessartort Frammmersbach mißt seinen Kunden in den Chefetagen von Flensburg bis Garmisch, zu denen er Kontakt über das Internet aufgenommen hat, Anzüge an. Weil der väterliche Schneiderbetrieb im letzten Zipfel Nordbayerns irgendwann nicht mehr so gut lief, suchte der heute Sechsunddreißigjährige nach neuen Wegen – und bot seine Dienste zunächst über BTX an. Vor zwei Jahren kaufte er einen Computer und stellte sich auf eine bebilderte Präsentation um, die jetzt 70 Seiten umfaßt.

Auf denen zeigt Aull seinen Heimatort, den Schneiderbetrieb mit 20 Mitarbeitern, den inzwischen seinen Frau Lisa leitet, seine Arbeitsmethoden mit Zuschnitt per Computer und die Entstehung der Maßkleidung. Dann kommt er selbst ins Bild, berät über Stil, Farben, Stoffe. Und stellt Dienstanzüge vor, die er für die Stadt Zwickau gearbeitet hat.

In Deutschland hat der Schneider aus dem Spessart inzwischen 300 bis 400 Kunden, hauptsächlich aus dem süddeutschen Raum, doch ebenso einige in Frankfurt, Wiesbaden, im Taunus, in Dortmund oder gar in Berlin. Anfragen, sagt Aull, seien sogar schon aus den Vereinigten Staaten gekommen.

In den ersten zwei Monaten notierte er nach eigenen Angaben 2000 Internet-Abrufe – mehr tat sich zunächst nicht. „Aber auf einmal hat’s gekracht. Die Leute kaufen gleich mehrere Anzüge und bestellen immer wieder nach.“ Heute packt Aull sein Auto voll mit Probierteilen in allen Größen von 44 bis 70, aus exquisiten italienischen, englischen, belgischen Stoffen und besucht die Interessenten zu Hause oder in ihrem Büro. Dort legt er vor und nimmt Maß. Danach wird der Anzug angefertigt und dem Kunden, der gleich bar bezahlt, zur Fertigprobe gebracht. Aull plant seine Routen sorgfältig, um auf einer einzigen Tour gleich mehrere Termine wahrnehmen zu können. 80 000 Kilometer fährt er dennoch jedes Jahr.

Die Preise für einen Anzug sind mit 1200 bis 2000 Mark so kalkuliert wie im Fachgeschäft. Längst bestellen die Kunden bei Aull auch passende Krawatten, Hemden, Mäntel und Schuhe mit. Und nebenbei, ebenfalls im Internet, „Levi’s 501 aus dem Geschäft seines Bruders – die allerdings nicht nach Maß.