SHOP. Matthias Aull: Bei Anruf Maß
Erschienen in der Ausgabe Januar 1996 von shop, Trends – Impulse – Geschäftserfolg
Matthias Aull:
Bei Anruf Maß
Die Geschichte vom tapferen Schneiderlein kennt jeder, nicht aber die vom innovativen Schneider: Matthias Aull bietet Maßanzüge im exclusiven Home-Service an.
Wenn Matthias Aull abends sein Auto abschließt, hat er nicht selten 1.000 Kilometer und mehr an diesem Tag auf Deutschlands Straßen zugebracht. Sein „Büro“, das hat er im Kofferraum dabei: fünf große Kleidertaschen mit Musterkollektionen der aktuellen Herrenanzugmode, Designerkrawatten, Schuhe, Einstecktücher und einen Formularblock.
Matthias Aull ist gelernter Herrenschneider und auf dem besten Weg, das verstaubte Image seines Berufsstandes aufzumöbeln: „Kleider machen immer noch Leute, besonders in der Geschäftswelt. Aber gerade diese Menschen haben weder Zeit noch Muße für einen Einkaufsbummel“, so seine Erfahrung. Also dreht er den Spieß einfach im und begann, seine Kunden zu Hause zu besuchen.
Dem Trend auf der Spur
Das Nähen liegt ihm ohnehin im Blut. Schon sein Vater hatte nach dem Krieg im Spessartdörfchen Frammersbach eine Textilfabrik aufgebaut, und so hieß es vor 15 Jahren, den elterlichen Produktionsbetrieb zu übernehmen. „Zunächst lief die Textilherstellung noch gut, doch dann hatten wir massiv mit internationalem Wettbewerb zu kämpfen.“ Trotz aller Rationalisierungsbemühungen mußten Matthias Aull und seine Frau Lisa, die er auf der Bekleidungstechnikerschule in Hohenstein kennengelernt hatte, umdenken: „Die Produktion wurde zugunsten des Verkaufs immer mehr zurückgenommen.“
1987 startete Matthias Aull mit maßgeschneiderter Messekleidung. Bei einem Adreßverlag besorgte er sich die Adressen von renommierten Unternehmen und stellte dort seine Dienstleistung vor. „Firmen wie Alfa Romeo oder Mannesmann ließen ihre ganze Standbesatzung einheitlich von mir einkleiden“, erinnert sich Aull. „Doch solche hochwertigen Ausstattungen sind in der Regel auch hoch im Preis und werden in schlechteren Zeiten als erstes aus dem Budget gestrichen.“ Als sich die Messeaufträge zum Teil nur noch auf Accessoires beschränkten, suchten Matthias Aull und seine Frau nach einer neuen Möglichkeit, ihre Ausbildung und Kompetenz mit den Anforderungen des Marktes in Einklang zu bringen. „Konsumenten verändern ständig ihre Bedürfnisse. Wenn man sich aber mit der Entwicklung des Marktes und der gewünschten Zielgruppe auseinandersetzt, dann findet man den richtigen Weg“, sagt Aull heute über den Anfang seiner erfolgreichen Verkaufsstrategie. Er erkannte vor vier Jahren den Trend zum sogenannten „Cocooning“ (zu Hause einspinnen) und brach mit der Schneidertradition, Kunden im Atelier zu empfangen. Die Kundenkartei seines Vaters mußte herhalten, um erste Ansprechpartner für seinen Maßschneider-Homeservice zu bekommen. Immerhin waren jahrelang aus dem benachbarten Bad Orb begüterte Kurgäste zum Einkauf nach Frammersbach gekommen und hatten sich von Vater Aull einen Maßanzug fertigen lassen.
Heute hat Matthias Aull einen eigenen Stamm von 450 Kunden, der in seiner Branche fast „nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda zustande kommt“, wie er erklärt. Da ihm verständlicherweise die Zufriedenheit seiner Kunden seht am Herzen liegt, kümmert er sich persönlich um jeden Auftrag. Er reist mit Konfektionsanzügen in allen Größen zum Kunden, läßt diesen anprobieren und notiert dann die entsprechenden Änderungen in sein speziell entwickeltes Formularblatt. Jede Abweichung von der Konfektion ist kodiert und wird zu Hause in Frammersbach in die CAD-Anlage eingegeben. Genäht wird in der eigenen Textilfabrik, die seine Frau Lisa mittlerweile übernommen hat. Sie überwacht das millimetergenaue Zuschneiden der einzelnen Stoffteile und die Näharbeiten der 15 Mitarbeiterinnen.
Einmal im Computer, kann die „Größe“ jederzeit abgerufen werden, der Kunde hat dann nur die Qual der Wahl bei den Mustern feinster englischer und italienischer Stoffe. „Was besonders gut ankommt, ist mein persönlicher Lieferdienst“, freut sich Aull. Denn er macht sich die Mühe und koordiniert die Liefertermine zwei bis drei Wochen nach dem Maßnehmen. „Auch wenn ein Kunde in Hamburg zu Hause ist, bringe ich den fertig genähten Anzug dorthin“, so Aull. Er will sich selbst von der Paßform überzeugen, ist erst zufrieden, wenn der Kunde sich restlos wohlfühlt.
Werbeaktion im Umbruch
Solche Termine verbindet Matthias Aull aus wirtschaftlichen Aspekten mit weiteren Kundenbesuchen, und dann kann es schon mal vorkommen, daß er die ganze Woche unterwegs ist. Denn sein Service kommt an, auch ohne große Werbeaktionen: „Die herkömmlichen Methoden der Werbung ziehen nicht mehr“, mußte er erfahren, „die Leute bekommen einfach zu viel Werbepost, da geht der einzelne Brief unter.“ Auf die Empfehlung zufriedener Manager kann Aull bauen, aber er wollte dennoch auch aktiv Werbung betreiben. Und da hat er eine ganz neue Form für sich entdeckt: Werbung über Btx. Vor einem halben Jahr bot die Telekom zum Einstiegspreis von 500 Mark im halben Jahr den Online-Anschluß plus Eintragungen an. Aull griff zu: „Allein in den ersten zwei Monaten habe ich darüber sechs Aufträge erhalten, alle liefen mindestens über zwei Anzüge. Online-Werbung ist für ihn keine Zukunftsmusik, bereits heute erhält er täglich zwei bis drei Anfragen bezüglich seiner Dienstleistung. Auf sechs Seiten informiert er im Btx über seinen Service, die Preise, die Abwicklung der Aufträge. Die Interessenten fragen ebenfalls online an, ob sie weiteres Info-Material haben können oder ob Matthias Aull zwecks Terminvereinbarung zurückrufen kann. Wer daraus schließt, daß Matthias Aull ausschließlich junge Kunden betreut, die in der Welt der elektronischen Medien zu hause sind, der täuscht. Bei seiner Klientel handelt es sich um gediegene Geschäftsleute, Geschäftsführer und Vorstände zwischen 40 und 60 Jahren alt. „Meine Kunden lieben keine Experimente, zumindest was die Kleidung anbelangt“, verrät Aull. „Sie wissen, was sie wollen und stehen auf Qualität.“ Die kann er schon ab 1.000 DM liefern, ein Maßanzug kostet also wenig mehr als gute Konfektion. Dafür kann der Kunde stolz sein, seinen persönlichen Schneider zu haben. „Auch wenn ich stets im Hintergrund agiere“, wie Aull betont. „Die Hälfte meiner Kunden läßt im Büro Maß nehmen, als Schneider darf ich da nicht auffällig sein, sonst wissen die Kollegen und Mitarbeiter gleich Bescheid.“ Aull, der seinen diskreten Service in ganz Deutschland anbietet, vereinbart Termine von 7 Uhr morgens bis 20 Uhr abends, ganz wie der Kunde es wünscht. Denn nur mit absoluter Kundenorientierung kann er dem selbstgesteckten Ziel näherrücken, sein „Kundennetz“ in Deutschland noch dichter zu spinnen. Und wenn er wieder einmal nach einem langen Tag nach Hause kommt, sprüht er dennoch vor Energie und Schaffenskraft. Der Grund: die Freude über seine gute Geschäftsidee – die wohl einzigartig ist, wie er aus seiner Erfahrung weiß.